Ich sitze im Zug, es herrscht Feierabend-Platznot. Mit jedem Halt werden es mehr Menschen, die sich in ein und denselben Zug zu quetschen versuchen und erbittert um die letzten Plätze kämpfen. Survival of the Fittest mit dem Unterschied, dass Gebrechlichkeit einen Vorteil verschafft.
Weder die späte Stunde, noch der regnerische Februartag tragen wirklich zu guter Stimmung, geschweige denn Luftfeuchtigkeit bei. Ein schwer atmender, auf den ersten Blick jedoch gutaussehender junger Mann möchte wissen, ob er sich denn zu uns ins Abteil setzen dürfe, aber natürlich! Gerne hieve ich meine vor Schulbüchern überquellende Tasche auf meine Knie und mache ihm den wohl letzten Sitz des Wagens frei. Gern geschehen!
Womit ich nicht rechne: Mister Aktentasche ist einer jener Menschen, die Ihnen nicht nur den Platz Ihrer Tasche, sondern auch Ihren eigenen nehmen. Kaum niedergelassen, sieht er sich suchend nach der Armlehne um, ah da ist sie ja! Zack, runter damit. Et voilà: hier kommt Monsieur Dreitagebarts Ellbogen in meine Seite. Er scheint sich richtig wohlzufühlen, in seiner Rolle richtiggehend aufzublühen, denn auf seinen Rolex-gezierten Unterarm folgen seine Beine: eines nach links und das Andere so weit davon weg wie irgend möglich. Ich kann mich jetzt noch knapp in die hinterste Ecke meines Sitzes drücken, ohne ihn grossflächig zu berühren.
Während ich also gemütlich klaustrophobisch an der Scheibe klebe, bückt er sich nach seiner Tasche, meine Gelegenheit! Ich erobere mindestens zehn Zentimeter der Armlehne zurück. Doch als er sich wieder aufsetzt, prallt sein Arm gegen den Meinen, es folgt eine kurze Auseinandersetzung: Ich verliere fünf Zentimeter der Armlehne an meine guten Manieren.
Physisch Raum einzunehmen ist ja eines, der Herr aber schnauft überdies wie ein Walross. Nun gut, vielleicht sind zwei Minuten vergangen, seit er eingestiegen ist. Der Arme wird um seine goldene Kreditkarte gerannt sein, lassen wir ihn doch erst einmal Atem schöpfen. Als er eine geschlagene Viertelstunde später immernoch wie ein Ertrinkender um Luft ringt, beginne ich mich nach der „Nächster Halt…“-Durchsage zu sehnen.
Ihn scheint der Sauerstoffmangel wenig zu kümmern, gar zu langweilen. Respektvolle fünf Zentimeter vor meinem Gesicht schiesst plötzlich sein Arm durch, ich halte die Luft an. Er will nur die Zeitung nehmen. Gebannt starrt er analphabetisch lange auf die Titelseite. Gerade als ich mich wieder daran erinnere, zu atmen, reisst er den ‚Blick am Abend’ auf – die eine Hälfte zum Mitlesen einladend vor meinem Gesicht (wie zuvorkommend, ich habe jedoch – Gutenberg sei Dank – meine eigene Ausgabe davon bereits vor mir, besten Dank!) – als gäbe es kein Morgen.
Nur einen Kanal zugleich mit Reizen zu schwemmen, scheint ihm bescheidenermassen zu wenig, lässig zieht er ein Smartphone aus seinem Jackett, steckt zu seiner Krawatte passende Kopfhörer ein und beginnt angenehm penetrierende Musik in einer Lautstärke zu hören, die mich den Sinn von Kopfhörern hinterfragen lässt.
Ein Odeur erklimmt meine Nase und befreit mich naserümpfend aus meinen Grübeleien. Herr Nadelstreifenanzug hat wohl den zum Bentley passenden Geruch erstanden und trägt diesen nun – egal zu welcher Stunde, man(n) soll schliesslich auch auf dem Nachhauseweg gut riechen! – von Gel-Frisur bis Lackschuh auf.
Nun, ich müsste wohl bloss Ohren, Augen und Nase verschliessen, Arme, Beine und woraus ich sonst noch bestehe einziehen, mich wahrscheinlich am Besten ganz aus der Situation substituieren, dann fühlte ich mich pudelwohl.
Und einmal mehr verstehe ich, warum wir Schweizer lieber alleine in einem Abteil sitzen.
😀 I like this!!